Welche Möglichkeiten gibt es für eine Progressive-Rock-Band heute noch, wirklich etwas Innovatives zu erschaffen? Ich denke, dies ist mittlerweile sehr schwierig geworden und deshalb machen viele Bands aus dem Bereich etwas anderes, um oben mit am Ball zu bleiben und die Aufmerksamkeit des Hörers zu erregen. OPETH, PAIN OF SALVATION, DARK SUNS oder ASTRA legen zum Beispiel einen Rückwärtsgang ein und besinnen sich auf die Tugenden und Klänge der großen Bands aus den Siebzigern zurück, andere stellen ihre überragende Technik zur Schau und wieder andere schlagen kommerziellere Pfade ein, um sich so neue Hörerschichten zu erspielen.
Die Polen RIVERSIDE sind nach vier Alben an einem Punkt angekommen, der meiner Meinung nach entscheidend ist. Die Band hat vier wunderbare Alben herausgebracht, die für nicht wenige Art- und Progrocker DIE große Offenbarung des Genres neben den PORCUPINE TREE-Wundertüten darstellen. Die ersten drei, "Out Of Myself", "Second Life Syndrome" und "Rapid Eye Movement" umfassen ein musikalisch und thematisch abgeschlossenes Konzept, die sogenannte "Reality Dream Trilogy". "Anno Domino High Definition" war danach der Versuch, sich aus dem stilistischen Korsett des düster-melancholischen New Artrock mit kurzen Metal-Einschüben zu lösen, was aber nur zaghaft gelang. Dennoch ist es ein sehr tolles Album geworden. Nun ist es aber an der Zeit, sich neu zu definieren und zu zeigen, dass man weiterhin die Speerzpitze einer kleinen aber feinen Musikbewegung darstellen möchte. Mariusz Duda (Gesang, Bass) sieht dies wohl genauso und verspricht im Vorfeld des neuen Albums "Shrine Of A New Generation Slaves" (kurz: "SONGS") eine neue Bandphase, die den Beweis erbringen soll, dass RIVERSIDE noch zu Überraschungen fähig sind und Neues in ihren Sound einfliessen lassen können. Eine Weiterentwicklung also. Hält Mariusz sein Versprechen?
Steigen wir ein in die faszinierende Welt von "Shrine Of A New Generation Slaves", die - soviel vorab - toll geworden ist. Der Opener 'New Generation Slave' lässt den Hörer zunächst aber erst einmal kauen. Eine leichte Verzerrung liegt auf Mariusz' Gesang, der Song kommt schwer in die Gänge und wirkt etwas sperrig, bevor ein satter Seventies-Rock-Groove das Fundament für erdige Gitarren- und Orgelsounds legt. Auch nach vielen vielen Durchläufen liegt mir der Song etwas schwer in Magen, aber das ändert sich in der Folge schnell. Bei 'The Depth Of Self-Delusion' klingt Mariusz so zerbrechlich wie nie zuvor. Mit seichtem Groove, zarten Akustikgitarren, dieser Herzklopfen-Melodie und dem leichten An- und Abschwellen in der Dynamik erschaffen RIVERSIDE Zauber-Artrock, den so - wenn überhaupt - nur ANATHEMA komponieren können. Bei 'Celebrity Touch' sind die erdigen 70ies-Classic-Rock Einflüsse sogar noch ausgeprägter. RIVERSIDE mit GRAVEYARD-Groove, cool, das ist eine Kombination, die Sinn macht und einfach fetzt! Auch 'Feel Like Falling' würde ich nicht als 'typischen' RIVERSIDE-Song bezeichnen, denn er orientiert sich eher am Prog von IQ (jedenfalls erinnert der versetzte Beat an diverse IQ-Songs), mit eingängigen Gesangsmelodien und - vor allem gegen Ende hin - wieder schön deftigen verzerrten Gitarren. Am besten gefallen mir RIVERSIDE aber immer, wenn ihre ruhigeren Songs anklingen. Dann kann man die Musik am meisten geniessen. Man kann in das wundervolle Zusammenspiel von Bass und Schlagzeug abtauchen, welches von der perfekt produzierenden cleanen E-Gitarre umspült und durch Kevin Moore-artige Synthie-Einschübe abgerundet werden. Gerade lange Instrumentalpassagen laden hier zum Schwelgen und Mäandern in der Musik ein. So geschieht dies bei 'Deprived', bei dem später im Song noch ein herrliches Saxophonsolo für den besonderen Farbtupfer sorgt. Und so geschieht es auch bei 'Escalator Shrine', den Song, der dann auch am ehesten noch an die "Reality Dream"-Zeit erinnert und die Fans versöhnt, die eben auf diese Zeit am meisten stehen. Allerdings gibt es auch hier im Mittelteil eine Frickelprog-Passage, die sich gewaschen hat und den einen oder anderen zarteren Artrocker etwas knabbern lassen könnte. Meiner einer findet das natürlich ganz fantastisch!
So kann ich am Schluss sagen, dass sich RIVERSIDE tatsächlich immer mehr von ihrem alten Stil freischwimmen und es schaffen, packende neue Modifikationen in ihren Trademark-Sound zu integrieren. Das heißt unter anderem: Häufigere Verwendung von Orgelsounds, satte Classic-Rock-Passagen im Sinne der Siebziger-Jahre, variablerer Gesang bei verstärktem Einsatz von Gesangs-Effekten und größere Vielfalt bei den Konservensounds. Dabei ist das Songwriting noch anspruchsvoller geworden. Die Arrangements wirken ausgereifter und erwachsener, was aber erstaunlicherweise nicht auf Kosten der Eingängigkeit geht. Nein, viele Melodien sind sogar etwas einprägsamer als früher. Dies erklärt, warum man nach dem Album nach und nach süchtig wird. Bei mir dreht "SONGS" seit kurz vor Weihnachten täglich seine Runden. Kein Ende in Sicht!