Mariusz, für alle die, denen polnische Namen nicht so leicht von der Zunge gehen: Hast du eigentlich einen Spitznamen?
Mariusz Duda: Nein, tut mir leid. Zwei von uns vieren in der Band besitzen einen. Ich zähle nicht dazu.
Shrine of New Generation Slaves kommt in diesem Januar auf den Markt. Worum geht es euch diesmal inhaltlich?
Nun, um die menschliche Verwirrung in all ihren Facetten. Heutzutage irren die Menschen durch die Welt, suchen nach Erfüllung, finden aber zum Beispiel ihren Schrein, ihren Tempel samstags und sonntags in den großen Shopping Malls, durch die sie sich treiben lassen. Das Album zeigt uns willenlos und ohne Identität. Die Menschen haben die Kontrolle über ihr Leben verloren, was auch schon das Cover des Albums zeigt.
Darauf sind konturlose Aliens auf einer Rolltreppe zu sehen.
Ja, man könnte diese geklonten Typen auch als Sklaven ihrer eigenen Orientierungslosigkeit bezeichnen.
Starker Tobak, der als roter Faden für das gesamte Album dient?
Ja, durchaus. SONGS ist aber diesmal absolut kein Konzeptalbum wie die Trilogie Reality Dream seinerzeit. Damals haben wir ja auf den drei Alben Out Of Myself, Second Life Syndrome und Rapid Eye Movement eine große Geschichte erzählt. Nicht nur erzählt, sondern auch in ein dramatisches und starkes musikalisches Konzept eingebunden.
Und heute?
Auch SONGS hat eine Geschichte, aber keine so große. Die verschiedenen Stücke behandeln jedes auf seine Weise das Unglücksgefühl der Menschen, die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben und nur noch abhängig von Zwängen zu sein. So hat das Album weder Anfang noch Ende, sondern zeigt Menschen mit ihren Gefühlen in unterschiedlichen Situationen.
Ein Beispiel vielleicht?
Ja, gerne. Ein Song lässt einen Menschen zu Wort kommen, der mit allem unzufrieden ist und sich ständig beschwert. Ein anderer dreht sich um fehlendes Selbstbewusstsein. Da strebt ein Mensch nach größtmöglicher Aufmerksamkeit. Nicht unbedingt als Star auf den Titelseiten der Magazine. Aber er will in seinem Umfeld stets gesehen, gehört und wahrgenommen werden. Dann wiederum geht es um Beziehungen in Zeiten der Smartphones. Der persönliche Kontakt verlagert sich auf die neuen Kommunikationswege und weg von direktem Kontakt und Austausch. Für mich ist das auch ein Zeichen für den Verlust von Identität.
Hast du dich irgendwann in deinem Leben in diesem Sinne verloren?
Zunächst möchte ich sagen, dass die Welt ingesamt verrückter wird, meine Charaktere aber nicht durchgedreht sind, noch nicht jedenfalls. Ich persönlich habe meinen Platz im Leben gefunden. Das ist auch wörtlich zu verstehen. Ich wohne jetzt eher ländlich und gewinne so den nötigen Abstand zu dem hektischen Leben in einer Großstadt.
Bevor du diesen Abstand gewonnen hast: Was hat dich früher geprägt?
Nun, selbstverständlich das besondere Leben im Kommunismus. Wenn du nicht alle Freiheiten genießt, nicht alles haben oder konsumieren kannst, entwickelst du gewisse Eigenarten. Bei mir führte das dazu, dass ich alle möglichen Sachen gesammelt und gehortet habe. Dosen, Boxen, Zigaretten, Poster. Ich bin nicht wie andere so weit gegangen, im Müll zu stöbern, das nicht. Aber ich habe versucht, mir meine eigene Realität zu erschaffen. Neben dem Sammeln war das besonders die Welt der Comics, die habe ich verschlungen. Die habe ich als Junge sogar selbst gezeichnet.
(Eine blecherne Stimme ertönt und sagt den nächsten Halt an. Jetzt übernimmt der Riverside-Gitarrist den Part des Fragenden)
Mariusz: Was war das? Ist da noch wer?
Ich sitze im Zug, das war nur eine Ansage. Stört das?
Nein. (lacht) Es gibt dem Ganzen nur einen besonderen Klang. So wie mein Hund, mit dem ich gerade draußen bin. Der zerbeißt im Moment eine Plastikflasche.
Na, dann steht es ja 1:1 bei den Nebengeräuschen. Auch mal was Neues, so wie die Musik auf dem Album, nicht wahr?
Ja, insgesamt ist Shrine voller neuer Ideen. Die Metal-Einflüsse, die bis zu Anno Domini High Definition eines unserer Markenzeichen waren, haben wir durch andere Sachen ersetzt. Unser Gitarrist…
Piotr Grudziński…
…hat seine Helden doch viel mehr im klassischen Rock. Und überhaupt wollten wir nie eine zweite Metalband werden, die wie ein Aufguss von irgendwem klingt. Also haben wir uns darum bemüht, den Klang der Gitarre und des Schlagzeugs neu zu arrangieren. Wir wollten Metal vermeiden, wir wollten aber auch Prog vermeiden. Ich wollte Riverside pur. Nicht, dass ich etwas gegen Gitarrensoli habe. Aber sie sollten eben kürzer ausfallen, damit die Musik insgesamt anders klingt.
Dieser Sinneswandel kommt wohl nicht von ungefähr, oder? Schließlich hast du mit deinem Solo-Projekt Lunatic Soul viel experimentellere Wege eingeschlagen, Weltmusik eingebunden und auf den insgesamt drei Alben ganz andere Dinge ausprobiert.
Lunatic Soul konnte nicht ohne Einfluss auf meine Arbeit mit Riverside bleiben, da hast du Recht. Ich bin sehr mit dem Sound zufrieden, den ich dort entwickelt habe. Und diese Stimmung mitzunehmen, das war mir sehr wichtig.
Nun gibt es einen anderen Mann in deinem Musiksektor, der sich zunächst als Solokünstler erfinden musste, um überhaupt wieder Kraft für sein angestammtes Projekt zu finden. Steven Wilson von Porcupine Tree. Für ihn sind die Soloarbeiten viel wichtiger geworden als seine überaus erfolgreiche Hardrock-Band. Kennst du ähnliche Motivationsprobleme mit deiner Stammband?
Da hast du mich voll erwischt. Ohne neue Entwicklungen bei Riverside hätte ich wohl große Probleme bekommen weiterzumachen. Das habe ich den Jungs auch gesagt, als es 2012 um ein neues Album ging: Ich will nicht das Gleiche schon wieder machen; es soll wieder mehr Spaß machen. Und das würde ich nur schaffen, wenn ich mich kreativ in alle möglichen Richtungen ausleben dürfte. Also mehr von mir in die Musik statt des alten Riverside-Sounds.
Das ist dir zweifellos gelungen. Deep Purple klingt mal durch, dann kommt Jazz hinzu, Saxofone sind zu hören.
Ja, ich liebe diese Passagen mit den Saxofonen! Ich war mir wirklich nicht sicher, ob wir diesen Spagat hinbekommen würden. Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Anspruch, Riverside zu erneuern, aber die Band damit auch vor eine Zerreißrobe zu stellen. Bei den Proben zum Album war ich mir dann aber sicher: Es ist okay, daraus wird ein neues Riverside-Album entstehen. Dieser kreative Fluss, den ich bei Lunatic Soul erlebe, den habe ich nun auch mit Riverside gefunden.
Wieviel Mariusz Duda steckt denn dann in Shrine?
In Prozent? Na, vielleicht 60 Prozent.
Oh, ich hätte mehr erwartet.
Ja, aber was soll ich sagen?! Ich bin doch ein höflicher Mensch und möchte die anderen nicht vor den Kopf stoßen. Shrine ist eins meiner persönlichsten Alben, ich habe es auch produziert. Aber jeder sollte seinen Raum haben zu spielen. Lass uns einfach bei 60 Prozent bleiben.
Ihr geht im März auf Europareise. Wird sich der Ton live auch verändern?
Live ist das so eine Sache. Wir wollen den neuen Songs breiten Raum geben, das ist klar. Die frischen Elemente sollen durchklingen. Allerdings kriegst du viele der im Studio entstandenen Spezialeffekte in der Musik live nicht auf die Bühne, da müssen wir etwas umarrangieren. Und auch für Shrine gilt: Die Musik wird live immer etwas härter klingen als auf dem Album. Selbst die weicheren Songs sind dann rauer und rockiger. Riverside wird wiederzuerkennen sein.
Mariusz, danke für das Gespräch. Endstation.